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║ 20. Neun Minuten                                                    ║
║ Donnerstag, 20. Januar 2005, 00:00                             eloi ║
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Sorgfältig isoliere ich die Lötstellen am Kabel mit selbstverschweißendem Isolierband. Den neu gekauften Kopfhörer (einer von diesen großen, hochqualitativen) umwickle ich zuerst mit Zellophan und verklebe dann die Kanten. Dann hülle ich das Ganze in eine Plastiktüte die ich mit Kabelbindern fixiere und auch wieder verklebe. Es muss absolut Luftdicht sein und ich werde keine Gelegenheit haben, das zu testen und eventuelle Fehler zu korrigieren. Ich setzte den Kopfhörer auf und schalte den Recorder an. Wie erwartet ist die Musik viel leiser als vorher, aber ich höre kein Flattern oder Zischen, was auf ein Loch oder eine undichte Stelle hinweist. Probehalber wackle ich an allen Lötstellen des fast sechs Meter langen Kabels. Kein Knistern, kein Knacken alles scheint in Ordnung zu sein. Die Kassette ist mittlerweile auch fertig bespielt. Nur ein Lied, Ludwig Hirsch' "komm, großer schwarzer Vogel" in der Interpretation von Tim Fischer. Es ist fast zwei Uhr Nachts, also höchste Zeit. Ich ziehe mir zwei weitere Pullover an, rolle das Kabel zusammen, ziehe die festen, schweren Winterschuhe an und gehe hinaus. Die Nacht ist sternenklar, eiskalt, so etwa minus fünf Grad aber dafür windstill. Der Recorder in einem, der Kopfhörer samt dem völlig überdimensionierten Kabel und den Batterien in einem anderen Stoffbeutel mache ich mich auf den Weg zur Mole. An deren äussersten Ende angekommen setzte ich mich mit dem Rücken zur Brüstung auf den Boden und packe meine Mitbringsel aus. Zuerst die Batterien in das dafür vorgesehene Fach. Die Kassette hatte ich zum Glück Zuhause schon an die Richtige Stelle gespult. Dann den Stecker des Kopfhörers in die entsprechende Buchse. Ich setze den Kopfhörer auf und drücke die PLAY-Taste. Ich klettere über die Brüstung und fülle die Stoffbeutel mit Steinen die zur Befestigung und Dekoration aussen um die Mole aufgeschüttet waren. Das Lied geht beinahe neun Minuten, mehr als genug Zeit also. Ich setze mich auf den äussersten Rand der Mole zum Wasser hin. Sorgfältig knote ich einen Beutel an jeden Schuh. Ich wickle das Kabel locker zweimal um meinen Hals, damit mir die Kopfhörer nicht im falschen Moment von den Ohren rutschen. Die Schlaufen des Kabels lege ich sorgsam auf die Brüstung, damit sich nachher kein Knoten bildet. Ich stoße beide Beutel mit den Füßen ins Wasser.
Und lasse mich hinterhergleiten.
Langsamer als erwartet zieht mich das Gewicht nach unten. Die Pullover schützen mich vor einem kältebedingten Schock und der damit unweigerlich verbundenen sofortigen Ohnmacht. Es ist stockfinster hier. Ich merke wie die Beutel auf dem Grund aufkommen. Der Klang der Musik ist kaum anders geworden und zu den letzten Klängen merke ich wie mich die Ohnmacht umarmt.
Ein paar Passanten werden am nächsten Morgen auf den Recorder und das von ihm aus ins Wasser reichende Kabel aufmerksam und verständigen die Polizei. Weil keine Spuren von Gewalt zu erkennen sind und wegen des entspannten Lächelns auf meinem Gesicht gehen die Behörden von Selbstmord aus. Sie kommt also zum Glück unbestraft davon, die Frau die mir das Leben nahm.
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║ 19. Digitally Imported I (die Fliege)                               ║
║ Mittwoch, 19. Januar 2005, 00:00                               eloi ║
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Ich sitze auf meinem Bett, höre die ruhige, elektronische Musik eines Internetstreams. Der Raum beleuchtet von einer 7 Watt Energiesparlampe, die ich mit rotem Tauchlack eingefärbt hatte. Sie steht aufrecht in der hinteren Ecke des Raumes, neben dem Jalousienbehangenem Fenster. Eine Fliege fliegt in mein Gesichtsfeld, fliegt ein paar gemächliche Kreise und verschwindet dann in einem Bereich dessen Einblick mir aus meiner derzeitigen Position nicht möglich ist.
Während einer leichten Kopfdrehung fängt meine Sicht auf den Raum an sich zu verändern. Alles wird undeutlicher, irgendwie grober, wie eine schlecht aufgelöste Computergrafik. Zarte schwarze Linien unterteilen das von meinen Augen ans Gehirn übertragene Bild in unregelmäßige Trapeze, Waben und Dreiecke. Jede dieser Waben ist nur mit einer Farbe gefüllt, wie in einem Mosaik, aber viel genauer. Ich kann noch immer alles erkennen, nur nicht mehr ganz so genau. Ausserdem sind einige Farben vertauscht. Mattes Weiß wird zu leuchtendem Blau, während die meisten anderen Farben etwas blasser und dunkler werden.
Ich spreize die Flügel und fliege durch den Raum zur Lampe. Vorsichtig krabble ich in die Mitte zwischen den vier Leuchtsegmenten der Energiesparlampe und schaue nach oben. Ein wahrhaft Monumentaler Anblick bietet sich mir. Die Helligkeit ist erträglich und schmerzt nicht einmal in den Augen.
Als es mir zu warm wird fliege ich weiter und setze mich schließlich auf die Nase des leuchtend blauen Eisbären. Seine schwarzen Augen sehen aus wie Löcher, die in den kalt glühenden Schädel gestanzt wurden, gleich dem kläglichen Versuch einer verirrten Seele einen blau glühenden Materieklumpen aus der Eishölle mit zwei gezielten Schüssen einer Faustfeuerwaffe zu eliminieren.
Ich fliege weiter zum Bücherschrank. Mit einiger Mühe gelingt es mir, mich durch den Spalt zwischen den beiden geschlossenen Türen zu quetschen. Beim entlanglaufen an den gigantischen Bücherreihen kommt mir beim Anblick einer Foliantenartigen Formelsammlung kurz der panische Gedanke, womöglich von dem hier gesammelten Wissen erschlagen zu werden.
Nachdem ich zweimal auf dem Langenscheidt-L eines Wörterbuches auf und ab gekrabbelt bin, trete ich den Rückweg an.
Aus irgendeinem unerfindlichen Grund vergesse ich kurz, daß die Türen des Bücherschrankes geschlossen sind und fliege erst ein paar mal gegen das Glas, was allerdings eher frustrierend als schmerzhaft ist. Zum Glück gelingt es mir aber nach einiger Zeit auf dem Glas zu landen und zurück zum Türspalt zu krabbeln.
Ich hab genug erlebt und fliege einigermaßen erschöpft zum Bett zurück, wo ich mich sitzen sehe. Ich fliege zu meiner Nase und kitzle mich, nur um mich zu ärgern. Ich kann wegfliegen, bevor ich reflexartig meine Hand hebe und mir über die Nase fahre. Kichernd fliege ich zu meinem rechten Ohr und krabble ins Dunkel. Weil es hier so viele Härchen gibt und es ja ohnehin finster wie im Sarg hier ist, schließe ich die Augen. Als ich sie wieder öffne, ist die Sicht wieder normal und ich spüre eine Fliege auf meinem rechten Ohr herrumkrabbeln...
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║ 18. Die Schule des Lebens                                           ║
║ Dienstag, 18. Januar 2005, 00:00                               eloi ║
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Ich habe heute über die viel zitierte "Schule des Lebens" nachgedacht. Ich dachte bisher, dieses geflügelte Wort sei eindeutig, aber ich habe mich getäuscht. Entgegen meiner bisherigen Meinung sind die Rollen nicht klar aufgeteilt. Oft fühle ich mich als Schüler in der "Schule des Lebens": Ich lerne von einem oder einigen wenigen Mentoren bzw. Lehrern und mit mir lernen weitere Schüler. Zuweilen von den selben Mentoren.
Heute habe ich bemerkt, daß ich nicht immer Schüler bin, sondern manchmal auch die Mentorenrolle übernehme um einen oder mehrere Schüler das Leben zu zeigen, zu lehren, die Sicht zu erweitern und die richtigen Fragen zu stellen. Also genau die Mittel, die viele andere bei mir angewandt haben zu benutzen.
Manchmal finde ich mich in beiden Rollen zugleich, als eine Art Katalysator, Vermittler oder einfach als jemand, der das gerade gelernte direkt weitergibt.
Aber am liebsten bin ich Hausmeister.
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║ 17. Shiva                                                           ║
║ Montag, 17. Januar 2005, 00:00                                 eloi ║
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Ganz langsam steigt der rote Ballon in die Höhe. Sie selbst an Bord der Gondel. Sie hatte sich den Korb immer viel kleiner vorgestellt. Bei fast schon 20 Metern Höhe sieht sie den Ballonführer wild gestikulieren - am Boden.
Verwirrt dreht sie sich um, doch was der Leser schon vermutet, stellt sich als schockierende Überraschung für sie heraus. Wie in Trance geht sie um den Brenner herum. Nachdem sie sich die Regler und Instrumente, deren Beschriftung sich für sie wie eine japanische Tageszeitung lasen, genau angesehen hat, setzt sie sich auf den Boden und schließt, den Kopf auf die Knie gelegt, die Augen. Durch die geschlossenen Lider sieht sie den Ballon immer höher steigen, bis durch die Wolken, immer höher, bis ihr die Erde selbst nur noch so groß wie ein Tennisball scheint.
Schließlich fast sie Mut und schaut verzweifelt nach unten. Sie kann zwar Häuser und Bäume recht gut erkennen und die wandelnden Punkte dort sind vermutlich die Fußgänger, aber sicher fühlt sie sich deswegen nicht unbedingt. Aber immerhin steigt sie nicht weiter. Ein wenig erleichtert studiert sie den Brenner eingehend. Versuchsweise drehte sie vorsichtig an dem kleinen, grauen Knopf direkt unterhalb der einen Brennerflamme. Wie erwartet wird die Flamme kleiner. Sie dreht beide Flammen herunter, traut sich aber nicht, den Brenner ganz auszumachen, für den Fall, daß sie ihn später noch einmal braucht. Der Wind treibt sie in Richtung offenes Meer und ihre Höhe nimmt nur langsam ab, wie das piepsen des Variometers ihr verrät. Resignierend starrt sie gebannt in die Richtung in die sie fährt. Erst wenige Meter über der Meeresoberfläche, dreht sie erschrocken beide Brenner wieder hoch.
Die Küste ist schon kaum mehr zu erkennen. Sie kennt sich mit Thermik nicht so gut aus, aber wenn in wenig Höhe der Wind nach Nord-Osten, aufs Wasser zu weht, vielleicht ist weiter oben ja eine Rückströmung in Richtung Festland, überlegt sie. Langsam wieder aufsteigend beginnt der Ballon leicht zu schaukeln. Tausend Gedanken rasen durch ihren Kopf. Was, wenn ich jetzt ins Meer falle? Oder was, wenn mich der Wind immer weiter hinaustreibt? Irgendwann ist das Gas leer und ich werden unweigerlich ins Meer sinken. Ist der Korb Wasserdicht? Wird sich der dann schlaffe Ballonsack sich mit Tonnen von Wasser füllen und mich mitsamt Korb hinabreißen? * Oder werde ich auf hoher See an einem Eisberg oder an einem Felsen vor irgendeiner Küste zerschmettert? Oder schwimme ich solange in der Gondel umher, daß ich schließlich beim Anblick des Eifelturms verhungere? **
Plötzlich klingelt ihr Mobiltelefon. Sie sucht hektisch in ihrer Tasche. Darauf hätte ich auch kommen können, denk sie.
Dann fällt ihr ein, daß sie ihr Telefon gar nicht mitgenommen hat. Es ist nicht in der Tasche. Es klingelt immer noch. Sie tastet sich ab. Nichts.
Sie hört eine Männerstimme ihren Namen sagen. Ist das Gott?
Verwirrt blinzelt sie in die Baumkronen der paar Obstbäume unter denen sie liegt. Offensichtlich das Paradies. Nur, wie war sie gestorben? Und was soll ausgerechnet sie im Paradies. Selbst sehr optimistisch betrachtet war sie absolut nicht der Paradiestyp. Da ist wieder diese Männerstimme, die ihren Namen sagt, fragend inzwischen. Sie richtet sich auf und sieht ihn, ihr einen Apfel reichend. Erschrocken blickt sie an sich herab. Zum Glück ist sie bekleidet. Bunte Ringelsocken, selbst kurzgeschnittene Jeans, ein löchriges rotes T-Shirt über einem ebenso löcherigem gelbem T-Shirt. Vereinzelt kann man, wo sich die Löcher überschneiden, das lochfreie Tank-Top sehen. Ihre Boots findet sie ein paar Meter weiter. Hilflos abgewetzte und ausgelatschte 14-Loch Ranger mit je einem roten und einem rot-grün-gelb geflochtenem Schnürsenkel sowie eine Glöckchenkette am Stiefel mit dem roten Band.
Weil sie Hunger hat nimmt sie den Apfel und plötzlich erkennt sie den Typen, der ihr den Apfel gereicht hat und sie erinnert sich an alles. Sie beißt in den Apfel und der Typ, den sie im Zug auf der Fahrt hierher kennengelernt hat, fragt, ob ihr der Film gefallen habe und ob sie noch einen sehen möchte.
Bevor sie genau weiß was passiert, sprudelt es lachend aus ihr hervor und sie erzählt ihren ... Traum oder was immer es auch war. Es war so real. Als sie fertig ist, deutet er, sprachlos vor lachen, auf eine Astgabel in einem der Obstbäume, in der sich ein mit Helium gefüllter Luftballon verfangen hatte.
Schließlich meint er, daß es Zeit ist, zu erfahren wie es weitergeht und beide legen sich zuerst die Eintrittskarte zum Kopfkino, ein unscheinbares Stückchen Löschpapier, auf die Zunge und dann sich selbst wieder ins Gras, während in der Ferne andere Leute Musik spüren und Farben schmecken.

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* Was physikalisch gesehen schon mal nicht hinhaut: Wenn der Korb wasserdicht ist, schwimmt er. Wenn der Ballon selbst so kalt ist, daß er ins Meer fällt und sich vielleicht sogar allmählich mit Wasser füllt wird er nicht untergehen, da sich immer einige Luftblasen im Inneren sammeln werden, die den Ballon über Wasser halten. Und sollte es wirklich passieren, daß die Öffnung immer nach oben zeigt, sämtliche Luft entweichen kann und der Ballon untergeht, wird er wie ein lebloser Sack unter der Gondel im Meer schweben, sie aber sicher nicht herabziehen. Natürlich ist hier noch keine von Wind, Wellen, Strömungen und Haien ausgehende Gefahr einkalkuliert... Andererseits hat man, als junge Frau in Panik, andere Sorgen als Physik.

** Was auch nicht ganz logisch ist, denn sie wird ja Richtung Nord-Ost getrieben, also genau vom Eifelturm weg. Aber als junge Frau in Panik hat man andere Sorgen als Geografie.
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║ 16. Ode an eine Unbekannte                                          ║
║ Sonntag, 16. Januar 2005, 00:00                                eloi ║
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Unbekannte! Als ich Dir zum ersten mal begegnete, wunderte ich mich nur, daß Du mir so auffielst. Unbekannt. Dennoch mit einem Gefühl der Vertrautheit. Je öfter sich unsere Wege kreuzten, desto klarer wurde mir, was es wirklich war, dieses Gefühl, das mich jedes mal durchströmte, wenn ich Dich sah. Meine Handflächen wurden feucht und ich begann am ganzen Körper leicht zu zittern. Mein Hals war wie zugeschnürt und so brachte ich jedes mal aufs neue kein Wort aus meiner staubtrockenen Kehle, ausser vielleicht ein klägliches Röcheln oder unterdrücktes quieken. Jetzt weiß ich, daß Du es geschafft hast, etwas lange tot und begraben geglaubtes in mir zu neuem Leben zu erwecken. Du hast dieses seltsame aber aufregende Gefühl exhumiert und reanimiert.
Oh Unbekannte, wie sehr es doch Deinen Reiz ausgemacht hat, daß ich Dich nicht kannte, so groß war auch die Neugier und mich gelüstete es mit meinem ganzen Sein danach, mehr über Dich zu erfahren. Aber was ich auch unternahm, was ich versuchte, ich kam nicht an Dich heran, Du bliebst unbekannt. Ich hätte schreien wollen und war dennoch nicht dazu in der Lage. Ich wollte Dich hassen, Dich töten, Dich vergessen. Nichts davon stand in meiner Macht. Was soll ich nun tun? Was soll mein Leben ohne Dich noch für einen Zweck haben? Ich kann mir keinen Vorstellen.

[...]

Nach der Klausur hat mir ein Kommilitone gesagt, daß x=4,2 war.
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║ 15. mut zur selbsthilfe                                             ║
║ Samstag, 15. Januar 2005, 00:00                                eloi ║
╚═════════════════════════════════════════════════════════════════════╝
mut zur selbsthilfe.
pseudodepressives herrumgelunger in regennassem selbstmitleid.
das innere wird manchmal zum äußeren
und damit das äußere unansehnlich,
weshalb man es hinter masken verbirgt.
ein aufschrei der auf wanderung gegangen seele äußert sich in massiver introvertiertheit.
und wenn einen nur noch das geräusch
des arhythmisch vor sich hinklopfenden
eigenen
herzens daran erinnert am leben zu sein,
wünscht man sich,
in einer welt mit abweichender mentaler schwerkraft zu leben.
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║ 14. In dubio pro reo                                                ║
║ Freitag, 14. Januar 2005, 00:00                                eloi ║
╚═════════════════════════════════════════════════════════════════════╝
Ein Hamster, bar jeder Vernunft, aß eines sonnigen Mittwochs ein von der örtlichen Königin vergiftetes Stück Apfel und fiel daraufhin postwendend in Ohnmacht. Ein zufällig des Weges kommender Zwerg sah dies Unglück und zugleich sich selbst genötigt, diverse ihm bekannte Erste-Hilfe-Maßnahmen einzuleiten. Als dadurch das vergiftete Apfelstück aus des Hamsters Kehle flog und dabei eine Taube traf, welche benommen und völlig desorientiert gegen einen Baum flog und an dessen Stamm zerschellte, hustete der Hamster und kam langsam wieder zu sich, jedoch nicht mehr dazu, sich bei dem hilfeleistenden Zwerg zu bedanken, da dieser, als er den Hamster wieder zu sich kommen sah, seine Spitzhacke schulterte und das Weite suchte, um es der Königin zu bringen. Diese nahm, nicht ohne Dankbarkeit, Selbiges entgegen und erkundigte sich bei der Gelegenheit auch gleich nach der Befindlichkeit der anderen Zwerge.
Der Hamster unterdes begab sich, einer Eingebung folgend, gleich zur königlichen Residenz um sich sowohl wegen des Apfels zu beschweren, als auch, um sich nach seinem Retter zu erkundigen. Leider umsonst, denn es war Mittwoch und sowohl die Beschwerde- als auch die Informationsstelle der Königin hatte nur bis 12:00 Uhr geöffnet und es war bereits tiefster Nachmittag. Also nahm er zwei Blankoformulare und den nächsten Bus nach Hause, wo seine Frau mit einem erquickendem, alkoholischem Heißgetränk und einer Butterbrezel auf ihn wartete. Überglücklich ob des Hamsters Heimkehr kippten die Beiden dermaßen viel Alkohol, daß sie sich am nächsten Morgen nicht in der Lage sahen ihren arbeitnehmerlichen Verpflichtungen nachzukommen. Sie wurden jedoch durch ungewöhnlich lautes und anhaltendes Haustürklingeln und -klopfen geweckt. Sich über diesen ungewöhnlichen Besuch wundernd (denn die Hamster hatten wegen ihres unverschämten Alkoholismus keine Freunde) ging die Frau mit einer schon fast optisch wahrnehmbaren Fahne zur Tür um diese zu öffnen, was ihr beim vierten Versuch auch gelang. Draußen stand ein Polizist mit einer toten Taube in der vorwurfsvoll erhoben rechten Hand.
Der Hamster wurde in einem späteren Verfahren wegen mangelnder Beweislage und dank der entlastenden Aussage des Zwerges freigesprochen.
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║ 13. Obst                                                            ║
║ Donnerstag, 13. Januar 2005, 00:00                             eloi ║
╚═════════════════════════════════════════════════════════════════════╝
Dr. Larta schaute auf ihr Klemmbrett, dann zu mir, dann zu Dr. Johnson. Der sah ebenso ratlos aus und hätte wohl am liebsten mit den Schultern gezuckt, traute sich das in Anwesenheit eines Patienten aber anscheinend nicht.
Seit fast zwei Monaten ging ich regelmäßig zu den beiden hoch angesehenen Ärzten. Unsere Sympathie beruhte auf Gegenseitigkeit und wir hatten alle nicht das Gefühl seit dieser Zeit einen einzigen Schritt weitergekommen zu sein. Irgendwie tat mir das sogar ein wenig leid. Sie gaben sich wirklich Mühe. Schließlich sagte Johnson, daß die Zeit um sei und ich sagte artig "Gute Nacht Apfel." - "Auf wiedersehen Skingy." - "Gute Nacht Birne." sagte ich zu Dr. Larta. Sie erwiderte nur ein Seufzen und Kopfschütteln.
Ich habe festgestellt, daß eigentlich die meisten Menschen komisch sind und teile sie daher in metaphorische Gruppen. Ärzte sind Obst. Alle. Die Verbindung ist Gesundheit. War das denn so schwer zu verstehen für zwei der besten Psychologen Norddeutschlands?
Draußen wartete mein Zivi. Als er mich zurück in die Anstalt fuhr fragte er mich: "Na Skingy, hast Du das Gemüse wieder in den Wahnsinn getrieben?" - "Ach Taube, Du hörst mir nie richtig zu. Sie sind Obst. Und: jaaa. Ich denke, ich werde sie bald soweit haben." Ich verzog das Gesicht und lachte dämonisch. Mein Zivi grinste. Ich glaube, er ist einer der wenigen, die mich nicht für Verrückt halten. Trotzdem nahm ich mir vor, ihm nachher das Genick zu brechen. Mal ehrlich, was hat er für eine Zukunft, wenn er nicht mal richtig zuhören kann?
Andererseits meint er es wirklich gut... und einen Menschen nur wegen seines Aufmerksamkeitsdefizites zu erlösen ist wohl doch etwas zu hart.
Am Nachmittag kamen mich zwei meiner Freunde besuchen. Endlich Menschen, die ich nicht metaphorisieren brauche. Es ärgerte mich, daß sie an den Strand wollten, abends. Ich wollte gerne mitfahren und auch feiern, baden, saufen. Ich beschloss, ihnen deshalb das Genick zu brechen. Warum sollten sie Spaß haben und ich nicht?
Andererseits sind es meine Freunde. Da haben sie dann aber noch mal Glück gehabt, dachte ich.
Das Essen kam wieder mal zu spät, war zu trocken weil Soße fehlte und reichte wie immer nicht zum satt werden. Wieder einmal dachte ich darüber nach, wem ich dafür zuerst das Genick brechen sollte: der Köchin, dem Zivi der das Essen auffüllte oder dem, der es austeilte?
Lustlose Sklaven eines mystischen Systems. Sollten sie wirklich für eine Demotivation sterben, für die sie wahrscheinlich nicht mal verantwortlich waren?
Während dieser Überlegungen hatte ich meine Schlagbohrmaschine (ein angefeilter Teelöffel) aus ihrem Versteck in der Matratze geholt und an meinem Loch, ganz oben in der Wand, weitergearbeitet. Eine zermürbende Arbeit. Ich musste dabei auf dem Bett stehen und über Kopf arbeiten. Deshalb musste ich alle zwei Minuten die Hand wechseln.
Nach nur vier Monaten und einigen mentalen Genickbrüchen war es endlich so weit. Die letzten zwei Therapiestunden mit Apfel und Birne rückten in greifbare Nähe und ich hatte alles vorbereitet. Das Loch in der Wand war tief genug und der Löffel darin verkeilt.
Ein neuer Zivi fuhr mich in die Privatpraxis. Es konnte losgehen.
In nur zwei Stunden erklärte ich den beiden Profis mein komplettes Lebensprinzip und meine Weltanschauung. Anschließend erzählte ich ihnen meine komplette Biografie. Mein Vortrag war gut geprobt. Ich sprach sehr schnell und hatte genau nach 120 Minuten mit der Schilderung meines Todes geschlossen. Zum ersten mal sah ich sie völlig überfordert, schockiert, geängstigt und vor allem: total sprachlos.
Beim hinausgehen durchströmte mich eine tiefe Zufriedenheit.
Ich hoffte, daß ihre mentale Lähmung lange genug anhält, um die Anstalt nicht mehr rechtzeitig benachrichtigen zu können.
Zurück in der Zelle hängte ich die vorbereitete Wäscheleine an den Löffel in der Wand und meinen Hals an ihr anderes Ende.
So. Jetzt etwas Geduld.
Ah. Quietschende Reifen im Hof, das werden sie sein. Ich hörte sie zu meiner Zelle hassten. Mindestens vier Leute. Hektisches Aufschließen der Tür. Als erstes stürmten Apfel und Birne in den Raum, blieben wie angewurzelt stehen, als sie mich sahen. Dann noch ein Arzt und die Frau Pförtnerin. Als alle mich anstarrten, regungslos, ohne ein Wort zu sagen, grinste ich, sprang hoch und ließ mich fallen.
Wie ich es ihnen bereits mitgeteilt hatte, blieb dieses Knacken noch sehr lange im Gedächtnis des Obstes.
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║ 12. Gulasch                                                         ║
║ Mittwoch, 12. Januar 2005, 00:00                               eloi ║
╚═════════════════════════════════════════════════════════════════════╝
Sitzen am Sund. Das nahezu perfekte Wetter ist nicht annähernd so befriedigend wie angenommen; wenigstens habe ich Ruhe. Und Wasser. Erstaunlich, daß es Enten anscheinend völlig egal ist, ob sie in Süß- oder Salzwasser schwimmen. Fische sind da ja bekanntlich etwas zimperlicher. Aber was trinken Salzwasserenten? Als verdurstender Mensch darf man ja wegen der dehydrierenden Wirkung des Salzes kein Salzwasser trinken. Geht es Enten genauso? Ich hätte früher in Biologie besser aufpassen sollen.

Nicht nur Enten, auch Algen, Dreck, Müll, Schwäne und ein Hund sind im Wasser. Gut pürieren und man hat einen leicht versalzenen Gulasch. Naja vielleicht vorher noch die Schiffe raussammeln. Gulasch.
Verstaubter Kessel, irgendwo hinten in meinem Kopf. Spinnwebenüberzogen. Aber ohne Kelle darin. Nicht zum Essen, zum Rühren ist er da, er hat schon Haut gebildet, trocknet ein. Gut? Schlecht? Wenn man ihn nicht bemerkt, stört er nicht. Wie ein Splitter im Bein, den man nur bemerkt, wenn man die Hose anzieht. Aber hat man den Kessel erstmal bemerkt, ist es zu verlockend vom Inhalt zu kosten. Oder in ihm zu rühren. Kopfgulasch.
Erinnerungen am Boden abgesetzt, ein wenig rühren und man ißt die Gedanken der Vergangenheit. Es bleibt zu überlegen, ob man das will. Die Liebe vergangener Jahre hervorkramen. In Erinnerung schwelgen oder in ihr ertrinken.
Klar ist man glücklich, muss man ja. Wäre da nur nicht.
Und deshalb ist es gut, daß die feinen, großen, zarten, die guten Brocken am Boden kleben. Zum Teil leicht angebrannt. Vorhanden aber unauffindbar. Zumindest ohne Kelle.

Wie der Asphalt die Wärme des vergangenen Tages, strahlt auch die Erinnerung die Liebe vergangener Jahre ab. Mein Leben geprägt von Selbstbetrug. Oder?
Mittlerweile ist es dunkel am Sund. Wie der Hund ist auch die Ente spurlos verschwunden. Süßwasser trinken? Der romantische Sternenhimmel hat nicht einmal etwas tröstliches.
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║ 11. Circulus Vitiosus                                               ║
║ Dienstag, 11. Januar 2005, 00:00                               eloi ║
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Morgen nach der vorletzten Klausur fange ich gleich an zu lernen. Die letzte Klausur ist die schwerste.
Aber weil die vorletzte Klausur so prima lief gibt es zum Mittag erstmal ein Bier. Auf dem Heimweg noch bei Netto 'ne Flasche Sekt gekauft und es wird ein schöner Abend. Ohne lernen. Aber was solls, morgen anfangen ist auch OK.

Und weil es so ein schöner Abend gestern war bin ich auch erst gegen achtzehn Uhr aufgestanden, um gleich nach dem "Frühstück" mit lernen anzufangen. Beim Frühstück bemerke ich, daß mein Saft leer ist und ich auch neues Brot benötige, also noch mal schnell zum Netto. Aber wenn man schon zu Netto muss, kann man da auch gleich ne Exkursion draus machen. Also rauche ich mir noch schnell einen und schlendre zum Netto. Auf dem Weg nehme ich mir vor, keinen Alkohol zu kaufen. Damit ich dann gleich lernen kann und nicht in Versuchung geführt werde.
Auf dem Spaziergang zum Hafen, weil noch so schönes Wetter ist, öffne ich mir eins der Biere und trinke auf meine Selbstdisziplin.

Nun gibt es 2 Möglicheiten:


  1. Ich habe die Klausur bestanden. Also kein Grund irgendetwas an meinem Lebensstil zu ändern. Fortsetzung siehe oben.

  2. Ich habe die Klausur nicht bestanden und wurde Exmatrikuliert. Kein Abschluß. Keine Ausbildung. Kein Job. Also geselle ich mich zu den Straßenpunks und "fresse das bittere Ende meiner auf Vorschuss gelebten Zeit", wie Götz Widmann es formulierte.